Der Aufstand der Vernunft

Ayn Rands Objektivismus

Politik

520595.jpg Als philosophische Bewegung vertritt der Objektivismus auch politische Prinzipien, da die Politik einen Zweig der Philosophie darstellt. Diese politische Prinzipien sind allerdings nur als Konsequenz und praktische Anwendung seiner fundamentalen philosophischen Prinzipien anzusehen. Ayn Rand weist darauf hin, dass die Politik auf den drei anderen philosophischen Disziplinen basiert: Metaphysik, Epistemologie und Ethik. Nur auf dieser Basis kann eine konsistente politische Theorie formuliert und in die Praxis umgesetzt werden. Das ideale politische System bezeichnet Ayn Rand als Laissez-faire Kapitalismus. Diese Art von Kapitalismus, von der Ayn Rand spricht, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Die Nordstaaten der USA sind diesem Ideal im 19. Jahrhundert lediglich nahe gekommen, ohne es aber je zu erreichen. Die niedrigen Löhne und die harten Arbeitsbedingungen in dieser früher Phase des Kapitalismus sprechen nicht gegen das Vorhandenseins eines (beinahen) Idealzustands, denn der Kapitalismus schuf diese Bedingungen nicht, sondern er hatte sie nur geerbt. Entgegen der landläufigen Auffassung, dass es sich beim Kapitalismus nur um ein Wirtschaftssystem handelt, erkannte Ayn Rand das Wesen des Kapitalismus als eines Gesellschaftssystems, das die Individualrechte anerkennt:

Kapitalismus ist ein gesellschaftliches System, das sich auf die Anerkennung der Individualrechte stützt, einschließlich der Eigentumsrechte, in dem alles Eigentum privat ist.

Den entgegengesetzten Pol zu einer kapitalistischen Ordnung, die die Individualrechte voll und ganz anerkennt, bildet ein etatistisches Regime, dass aufgrund des Prinzips handelt, dass der Mensch und seine Arbeit dem Staat gehört. Das Glossary of Objectivist Definitions bietet unter "Statism" eine Definition von Leonard Peikoff an, die dieser in OPAR verwendet: "’Etatismus‘ meint jedes System, dass die Macht beim Staat konzentriert zu Lasten der individuellen Freiheit." Etatistische Systeme können der Form nach sehr voneinander abweichen, was sie vereint, ist das Prinzip, dass der Staat das Recht hat, Zwang gegen seine Bürger zu initiieren, was aus ihm einen Kriminellen macht: "Unter dem Etatismus ist die Regierung kein Polizist, sondern ein legalisierter Krimineller, der die Macht hat, physischen Zwang auf jede Art und zu jedem Zweck, der ihm gefällt, gegen legal entwaffnete, schutzlose Opfer anzuwenden." Dass Etatismus nichts anderes ist als die "Herrschaft einer Gang" wird auf besonders plastische Weise durch die Massenverbrechen der faschistischen und kommunistischen Herrschaftsysteme des vergangenen Jahrhunderts verdeutlicht.

Weniger deutlich ist die etatistische Verletzung von Rechten allerdings in den gemischten System, die in den westlichen Staaten vorherrschend sind. In ihrem Aufsatz Roots of War spricht Rand von etatistischen oder gemischten Wirtschaften, was darauf hindeutet, dass die letztgenannten Systeme noch nicht die Grenze zum Etatismus überschritten haben, dass es sich um Systeme in einer Grauzone zwischen Verletzungen von Individualrechten und deren Respektierung handelt. Bei ihnen stellt sich die Frage, in welche Richtung sie sich bewegen, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, welche Richtung für Rand die einzig moralische und praktische war: "Die erste Entscheidung -und die einzige, die zählt- ist: Freiheit oder Diktatur, Kapitalismus oder Etatismus." Irrig sind Auffassungen, die unterstellen, dass bestimmten etatistischen Regimen -vor allem linker Provenienz- zumindest menschenfreundliche Ideologien zugrunde liegen würden.  Über den Zusammenhang von böser Theorie und böser Praxis schreibt Leonard Peikoff in OPAR: "Wer immer murmelt, dass der Sozialismus ungerecht in der Praxis, aber idealistisch in der Theorie sei, kennt nichts von Theorie oder von Gerechtigkeit. Jedes etatistische Regime ist ungerecht in der Praxis. Der Grund dafür ist, dass die Ungerechtigkeit die Essenz seiner Theorie ist." 

Die Quelle der Individualrechte ergibt sich aus der grundlegenden Natur des Menschen als eines rationalen Wesens, dessen Vernunft -eine Fähigkeit, die ausschließlich Individuen eigen ist- sein einziges Mittel zum Überleben ist:

"Der Ursprung der Rechte des Menschen ist weder ein göttliches Gesetz noch ein Gesetz des Kongresses, sondern das Gesetz der Identität. A gleich A – und Mensch ist Mensch. Rechte sind Existenzbedingungen, gefordert durch die Natur des Menschen zum Zwecke seines eigenen Überlebens."

Rechte sollen Menschen nicht in die Lage versetzen, alles zu tun, was sie wollen, sondern sie sollen moralisches Handeln möglich machen: "’Rechte‘ sind ein moralischer Begriff (…), der Begriff, der die individuelle Moralität in einem sozialen Kontext bewahrt und schützt – das Bindeglied zwischen dem Moralkodex des Menschen und dem Legalkodex der Gesellschaft, zwischen Ethik und Politik." In einer Fragestunde in der Ford Forum Hall 1969 entgegnete sie einem Fragesteller, dass es "kein moralisches Recht" gebe, irrational zu sein. Aber, fügte sie hinzu, in einer freien Gesellschaft könne man natürlich tun, was man wolle, wie irrational auch immer, solange man nicht die Rechte von anderen Menschen verletze. Es gibt nur ein fundamentales Recht, wovon alle anderen Rechte abgeleitet sind: "Das Recht auf Leben ist die Quelle aller Rechte – und das Recht auf Eigentum ist seine einzige Implementation". Ein Recht ist somit die Sanktion eines Positivums – der Freiheit, entsprechend des eigenen Urteils handeln zu können. Auch Kinder besitzen wie Erwachsene das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Da diese Rechte allerdings auf der Natur des Menschen beruhen, können Kinder ihre Rechte erst dann im vollen Ausmaß unabhängig ausüben, wenn sich ihr Geist entwickelt hat und sie genug Wissen erworben haben.

Gegenüber seinen Nachbarn hat ein Mensch nur eine Verpflichtung, die negativer Art ist: er muß davon Abstand nehmen, ihre Rechte zu verletzen. Da die Individualrechte nur durch andere Menschen und durch das Mittel des Zwangs (Betrug ist eine indirekte Form von Zwang) verletzt werden können, beinhaltet die Anerkennung der Individualrechte den Ausschluss von physischen Zwang aus allen menschlichen Beziehungen:

"In einer kapitalistischen Gesellschaft darf kein Mensch oder keine Gruppe die Anwendung von physischen Zwang gegen andere initiieren."

 "Ayn Rands Entdeckung, dass die Rechte nur durch die Anwendung von von physischem Zwang verletzt werden können, ist historisch", stellte Leonard Peikoff fest. Physischer Zwang nimmt dem Opfer die Möglichkeit gemäß seiner eigenen Überzeugung handeln zu können. Er negiert und paralysiert den Geist seines Opfers, indem er den Körper seines Opfers angreift oder sich sein Eigentum aneignet. Leonard Peikoff drückt es in OPAR so aus: "Zwang, der eingesetzt wird, um den Geist eines Menschen zu ändern, drängt seinen Geist (und somit seinen Prozess der Kognition) auf den Müllhaufen des Zwecklosen." Zwang und Geist sind somit Gegensätze, ebenso wie es auch Zwang und Werte sind.

Mit Ausnahme der unmittelbaren Gefahrenabwehr, die die Bürger in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstverteidigung selbst vornehmen dürfen, kann die Anwendung von vergeltendem Zwang gegenüber den Rechtsbrechern aber nicht der Willkür der individuellen Bürger überlassen bleiben. Ein muss eine Institution geben, die die Anwendung von vergeltendem Zwang gemäß objektiver Regeln ausübt und die damit die Herrschafts des Rechts, und nicht von Menschen, etabliert. Diese Aufgabe des Schutzes der Individualrechte, d. h. der Schutz gegenüber der Anwendung von Zwang, obliegt der Regierung. In ihrem Aufsatz The Nature of Government definiert Rand, was eine Regierung ist:

 "Eine Regierung ist eine Institution, die die exklusive Kompetenz hat, gewisse Regeln des sozialen Verhaltens in einer bestimmten geographischen Region zu erzwingen."

Wenn Menschen frei sein sollen, schreibt Leonard Peikoff, brauchen sie eine Regierung von einer bestimmten Art: "Solch eine Regierung ist eine Regierung von Gesetzen und nicht von Menschen". Der Regierung stehen zur Durchsetzung des Rechtes die Polizei, die bewaffneten Streitkräfte und die Justiz zur Verfügung. Die Gesetze müssen jedes nicht-objektive Element ausschließen. Sie dürfen lediglich Verbrechen, d. h. klar definierte Akte physischer Gewalt, verbieten. Die Bürger müssen wissen, bevor sie handeln, ob eine Handlung verboten ist und mit welcher Strafe sie belegt wird. Somit ist ein objektives Recht in der Lage, die Freiheit der Bürger eines Landes zu schützen. Dazu im Gegensatz steht eine Regierung von Menschen, wo der Staat die formale Autorität zugewiesen bekommt, die Bürger willkürlich zu verurteilen oder – willkürlich von Strafe abzusehen, wie es immer wieder geschieht, wenn Politiker verurteilten Kriminellen "Gnade" erweisen.

Hinsichtlich die Frage, wie die notwendigen Staatsaufgaben in einer vollkommen freien Gesellschaft finanziert werden sollen, skizziert Rand in ihrem Aufsatz Government Financing in a Free Society einige Leitlinien, wobei sie deutlich herausstellt, dass die freiwillige Finanzierung der Staatsaufgaben, die angestrebt werden soll, nicht der erste Schritt hin zu einer freien Gesellschaft ist, sondern der letzte. Erst dann, wenn der Umfang des Staates auf die angemessenen, grundlegenden Funktionen reduziert worden ist, kann das Prinzip der freiwilligen Finanzierung der staatlichen Dienstleistungen in die Praxis umgesetzt werden. Der Prozess der Befreiung könne nicht über Nacht erreicht werden, betont sie. Allerdings geht sie davon aus, dass die Befreiung sich schneller vollziehen wird als die Versklavung, da die Fakten der Realität auf der Seite der Befreiung stünden.

Anarchismus lehnte Rand als reine "Launenverehrung" ab, da die Anarchisten die Notwendigkeit einer Objektivität unter den Menschen ablehnten, besonders unter Menschen mit unterschiedlichen Ansichten. Bezeichnend für Rands Einstellung gegenüber dem Anarchismus ist ein Ereignis aus dem Jahr 1969, in dem ihr der Anarchist Roy A. Childs  (der später seine anarchistischen Ansichten allerdings korrigieren sollte) einen offenen Brief  schrieb, durch den er sie vom Anarcho-Kapitalismus überzeugen wollte. Rand reagierte vermutlich anders, als es Childs erwartet hatte: Sie beendete Childs Abonnement für die von ihr publizierten Zeitschrift The Objectivist .

Ebenso ablehnend wie gegenüber dem Anarchismus äußerte sich Rand über die politische Ideologie des Libertarianismus, obwohl diese eng mit dem Namen von Rand verknüpft ist. Die sich entwickelnde libertäre Bewegung in den USA findet in den von Rand veröffentlichten Aufsätzen allerdings kaum eine Resonanz. Der Ausdruck "libertarian" wird von ihr nur in dem Aufsatz What Can One Do aus dem Jahr 1972 überhaupt verwendet. Dort warnt sie vor dem Eintritt in ideologische Gruppen oder Bewegungen, aus der Motivation heraus, irgendetwas tun zu wollen. Beispielhaft für solche Gruppen nennt sie dann sie dann die "libertären" Hippies, die die Vernunft den Launen unterordnen würden und den Kapitalismus durch den Anarchismus ersetzen würden. Der wichtigste -und umfangreichste- Beitrag eines Objektivisten zur Bewertung der libertären Bewegung ist sicherlich Peter Schwartz Libertarianism: The Perversion of Liberty , erschienen in der Zeitschrift The Intellectual Activist . Er erscheint im Jahr 1985 und damit nicht mehr zu Lebzeiten von Rand. Dass Libertarianismus etwas Böses verkörpert, daran läßt Peter Schwartz in seinem Aufsatz keinen Zweifel: "Ist der Libertarianismus eine bösartige Doktrin? Ja, wenn das Böse das Irrationale und Destruktive ist. (…) Subjektivismus, Amoralismus und Anarchismus sind nicht nur in gewissen ‚Flügeln‘ der libertären Bewegung präsent; sie sind ihr integraler Bestandteil."

Fortsetzung: Ästhetik