Ethik
Die objektivistische Ethik ist die erste Ethik in der Geschichte, die konsequent den Primat der Existenz zum Ausdruck bringt. Sie tut dies, weil sie erkennt, dass die Existenz –die metaphysisch gegebenen Fakten einschließlich der Natur des Menschen- ein bestimmtes Verhaltensrepertoire von Menschen einfordert. „Nur ein Kodex, der auf den Erfordernissen der Realität basiert“, schreibt Leonard Peikoff, „befähigt den Menschen, in Harmonie mit der Realität zu handeln.“ Es ist eine Ethik der Werte, nicht der Opfer.
Die objektivistische Ethik beginnt zunächst mit der fundamentalen Frage: „Warum ist Ethik notwendig?“. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich zunächst aus der Tatsache, dass der Mensch ein lebender Organismus ist. Als solcher ist er der fortgesetzten Alternative von Leben oder Tod ausgesetzt. Dies ist die einzige fundamentale Alternative, die der Mensch (und alle anderen Lebewesen) ausgesetzt sind. Das Leben kann nur aufrechterhalten werden durch einen Prozess fortgesetzten Handelns, den das Lebewesen unternehmen muss, zum Beispiel durch die Beschaffung von Nahrung. Tiere und Pflanzen sind in der Lage, automatisch die Dinge zu tun, die notwendig sind, um ihre Existenz zu sichern. Bei Menschen verhält es sich anders, denn ihnen fehlt dieser Automatismus, der dafür sorgt, dass sie die richtigen Handlungen ausführen. Bevor ein Mensch handeln kann, muss er über sein Handeln nachgedacht haben, und um zu den richtigen Entscheidungen zu gelangen, benötigt er Kenntnisse über die Werte und Tugenden, die seinem Überleben dienlich sind. Menschen benötigen deshalb einen Kodex von Werten, die er es ihnen ermöglicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die richtigen Handlungen auszuführen. Kurz: Sie benötigen eine Ethik. Und in dieser Ethik muss es einen ultimativen Maßstab geben.
Wenn Lebewesen der ständigen Alternative von Leben und Tod ausgesetzt sind, kann es nur einen ultimativen Wert geben: das Leben. Als ultimativer Wert ist er der Maßstab, an dem sich alle anderen Werte messen müssen. Die Tatsache, dass ein lebendiges Wesen ist, bestimmt, was es tun sollte. Das Gute ist demnach das, was das Leben eines Menschen fördert, das Böse das, was es bedroht. Der Objektivismus befürwortet somit Egoismus in dem Sinne, dass es die moralische Verpflichtung eines jeden Menschen ist, sein eigenes Wohlergehen zu fördern. Um ihre Position gegenüber subjektivistischen Versionen des Egoismus abzugrenzen, bezeichnet Rand ihre Ethik als „rationales Selbstinteresse“ oder „rationale Selbstsucht“. „Das Überleben des Menschen als Mensch“ geht aber weit über das bloße physische Überleben hinaus. Es meint die Bedingungen, die Methoden und die Ziele, die für das Überleben eines rationalen Menschen während seines gesamten Lebens erforderlich sind. Egoismus bedeutet aber nicht, dass der Mensch sich von anderen Menschen isolieren sollte oder eine Attitüde der Gleichgültigkeit an den Tag legen sollte. Egoismus, richtig verstanden und angewendet, bedeutet, dass jeder Mensch die Rolle von anderen Menschen in seinem Leben identifizieren sollte und dann entsprechend beurteilen sollte. Liebe und Freundschaft sollten wichtige Werte im Leben eines jeden Menschen sein. Hinzu kommt, dass wir von einer sozialen Existenz profitieren können: durch den Austausch von Gütern und Dienstleistungen und durch das Wissen, was von Generation zu Generation weitergegeben und unter günstigen Umständen vermehrt werden kann.
Ein Wert ist das, was jemand durch Handeln erreichen und/oder behalten möchte. Werte sind aber weder subjektiv noch intrinsisch, sondern objektiv. In ihrem Aufsatz What is Capitalism? grenzt Rand ihre objektive Werttheorie von den konkurrierenden intrinsischen und subjektiven Theorien ab: „Die objektive Theorie stellt fest, dass das Gute weder ein Attribut von „Dingen an sich“ noch von emotionalen Zuständen des Menschen ist, sondern eine Bewertung von realen Tatsachen durch das menschliche Bewusstsein in Bezug auf einen rationalen Wertmaßstab.“ Fundamental für eine objektive Theorie der Werte ist die Frage: „Von Wert für wen und für was?“ Das Gute ist nicht gut an sich, sondern Objekte und Handlungen sind gut für einen Menschen und zum Zweck der Erreichung eines spezifischen Ziels. Es bezeichnet Fakten, die begrifflich identifiziert werden, und dann durch ein menschliches Bewusstsein bewertet werden in Übereinstimmung mit einem rationalen Wertestandard – das individuelle Leben eines Menschen.
Tugend ist die Handlung, durch die jemand einen Wert erreichen und/oder behalten möchte. Rationalität ist die grundlegende Tugend des Menschen und die Quelle aller anderen Tugenden. Die Philosophin Tara Smith spricht in ihrem Buch Ayn Rand‘s Normative Ethics von der „Meistertugend“. „Rationalität ist Anerkennung der Tatsache, dass die Existenz existiert“, lässt Ayn Rand ihren Helden John Galt in seiner Radioansprache sagen. Dies bedeutet, dass man anerkennt und akzeptiert, dass die Vernunft die einzige Quelle des Wissens ist, dass sie der einzige Richter ist, der Urteile über Werte abgibt, dass sie die einzige Handlungsanleitung ist, über die ein Mensch verfügt. Tugend ist aber kein Ziel an sich. Leben ist die Belohnung von tugendhaftem Verhalten, und Glück ist das Ziel und die Belohnung des Lebens.
Von der Tugend der Rationalität können weitere, spezifischere Tugenden abgeleitet werden, die ein besseres Verständnis dafür liefern sollen, wie Rationalität in der Praxis angewendet werden kann. Ayn Rand nannte sechs abgeleitete wichtige Tugenden: Ehrlichkeit, Unabhängigkeit, Gerechtigkeit, Integrität, Produktivität und Stolz. Die Tugend der Integrität bedeutet „Loyalität gegenüber rationalen Prinzipien“ und zeichnet den Menschen aus, der nach seinen Idealen lebt, und sie nicht nur in Lippenbekenntnissen preist. Eine solche Haltung schließt Kompromisse nicht grundsätzlich aus, und es ist falsch zu behaupten, dass Ayn Rand Kompromisse per se verurteilte. Die Validität eines Kompromisses hängt von der Art der Konzession ab, die jemand macht, und abgelehnt wurden von Ayn Rand nur Kompromisse einer ganz bestimmten Art: „Es kann keinen Kompromiss geben (…) zwischen gegensätzlichen Prinzipien.“
Das Verhalten gegenüber anderen Menschen sollte sich am Händlerprinzip orientieren. Es ist das Prinzip der Gerechtigkeit, weil der Händler das Unverdiente weder gibt noch nimmt, sondern Wert gegen Wert tauscht. Wenn sich Menschen gegenseitig als Händler behandeln, kann es auch keinen Gegensatz der Interessen zwischen ihnen geben. Die Sorge um die, die wir lieben, ist ein Bestandteil der egoistischen Interessen eines Menschen und hat nichts mit altruistischer Selbstaufopferung zu tun. Eine „selbstlose“, „desinteressierte“ Liebe ist ein Widerspruch in sich selbst. Ein Mann, der ein Vermögen ausgibt, um die lebensbedrohende Krankheit seiner Frau behandeln zu lassen, bringt kein Opfer zu ihren Gunsten, sondern handelt entsprechend der Hierarchie seiner Werte, in der seine Frau eine überragende Stellung einnimmt. Ein Opfer wäre es allerdings, wenn dieser Mann sein Geld zur Rettung von 100 hungernden Kindern in Afrika, die keine Bedeutung für ihn haben, verwenden würde, wie die Ethik des Altruismus von ihm fordert. Es ist moralisch richtig, einen Fremden vor dem Ertrinken zu retten, wenn das Risiko für das eigene Leben minimal ist. Sollte das Risiko hoch sein, ist es unmoralisch, dies zu versuchen. Wenn die Person nicht fremd ist, sollte das Risiko, dass man eingeht, größer sein in Abhängigkeit von der Wertschätzung der zu rettenden Person. Dies kann bis zum Risiko des Verlustes des eigenen Lebens gehen, wenn es um eine über alles geliebte Person geht, „aus dem selbstsüchtigen Grund, dass das Leben ohne die geliebte Person unerträglich wäre.“ Diese Einstellung ist etwas völlig anderes als ein Mensch, der akzeptiert, dass es seine Pflicht ist, sein Leben in den Dienst an anderen zu stellen, dass irgendein Leiden oder irgendeine Hilflosigkeit eines anderen Menschen eine Verpflichtung für ihn selbst bedeutet.
Weil der Objektivismus eine Ethik vertritt, die das SOLL aus dem IST ableitet, befindet er sich in einem strikten Gegensatz zu den vorherrschenden ethischen Theorien Altruismus und Hedonismus. Dies ist sehr offensichtlich beim Altruismus, weniger offensichtlich beim Hedonismus, trotzdem gleichermaßen zutreffend. Das Wesen des Altruismus besteht aus dem Konzept der Selbstaufopferung. „Opfer“ ist die Aufgabe eines größeren Wertes zugunsten eines geringeren Wertes oder eines Nicht-Wertes. Altruismus ist eine Anti-Selbst-Ethik, weil sie Selbstlosigkeit als Ideal betrachtet. Der Altruismus verpflichtet einen Menschen dazu, die Wohlfahrt der anderen über seine eigene zu stellen. Je mehr ein Mensch seine Werte aufgibt oder betrügt, desto tugendhafter ist er. Besonders tugendhaft, weil selbstlos, sind somit Opfer gegenüber Fremden oder sogar Feinden. Der Altruismus fordert nicht, dass man anderen Menschen helfen soll, wenn kein Opfer erforderlich oder wenn man einen positiven Wert in einer anderen Person sieht, sondern er sieht das Recht auf der Seite von denjenigen, die Hilfe fordern, und nur Pflicht auf der Seite derjenigen, die Hilfe erbringen müssen.
Der ethische Hedonismus sieht die Freude als den Maßstab für ein moralisches Handeln an, das Kriterium, das bestimmen soll, was gut oder böse, tugendhaft oder bösartig ist. In einer gegebenen Situation ist somit das Verhalten richtig, das in der Lage ist, das größte Maß an Freude und/oder das geringste Maß an Schmerz zu erzeugen. Die unterschiedlichen hedonistischen Schulen vertreten unterschiedliche Auffassungen darüber, ob man eine kurzfristige Freude oder eine langfristige Freude anstreben soll, ob man seiner eigenen egoistischen Freude frönen soll oder die größte Freude für die größte Anzahl von Menschen anstreben soll, aber sie alle stimmen darin überein, dass die Freude der ethischen Standard sein soll. Andere Schulen der Ethik fordern, einen Kompromiss zwischen einer altruistischen und einer hedonistischen Ethik zu suchen, zwischen den eigenen Wünschen und den Erwartungen anderer, aber all diese ethischen Konzepte teilen die Auffassung -implizit oder explizit-, dass Wünsche und Gefühle das Gegebene sind, die „irreducible primaries“. Die objektivistische Moralität sieht das Gefühl der Freude, wie jede andere Gefühlsregung auch, nur als eine Konsequenz, als einen Effekt an, der ausgelöst wird durch vorher stattgefundene Werturteile. Die Menschen aufzufordern, das zu tun, was ihnen Freude macht, würde demnach daraus bestehen, ihre bereits bestehenden Werturteile ohne nähere Überprüfung zu akzeptieren. Der Hedonismus wird somit zu einer inhaltslosen Ethik, die nicht definieren kann, was Werte und Tugenden sind und sich damit begnügt, die willkürlichen Werte, die ein Mensch erworben hat, zu sanktionieren. Die den Gefühlen der Freude zugrunde liegenden Werturteile müssen nicht einer systematischen Überprüfung werden, die zu einer Klärung kommt, ob diese Werturteile rational oder irrational sind. In der Praxis kann den Erfordernissen des Hedonismus nur entsprochen werden, wenn den bereits geformten Gefühlen Folge geleistet wird, wenn sie als das Gegebene angesehen werden. Eine solche Strategie ist irrational und somit unmoralisch.