Epistemologie
Der Mensch ist weder allwissend noch unfehlbar. Er ist bei der Geburt lediglich ausgestattet mit einem emotionalen Mechanismus, ebenso wie mit einem kognitiven Mechanismus. Aber diese beiden Mechanismus sind bei der Geburt „Tabula rasa“. Der menschliche Geist, seine kognitive Fähigkeit, muss beide mit Inhalt füllen. Somit ergibt sich die Notwendigkeit der Epistemologie. Epistemologie ist die Wissenschaft, die sich der Entdeckung der richtigen Methoden des Erwerbs und der Validierung von Wissen widmet. Der Primat der Existenz zwingt Menschen wie Tiere gleichermaßen, Wissen von einer vom Bewusstsein unabhängigen Realität zu erlangen, aber der Mensch muss als fehlbares, begriffliches Wesen durch eine richtige Epistemologie Kenntnis darüber erlangen, welchen Regeln er dabei folgen muss.
Die dem Menschen angemessene Methode besteht aus der richtigen Anwendung seiner rationalen Fähigkeit, der Vernunft. Denken ist allerdings keine automatische Funktion. Der Mensch muss sich dafür entscheiden, auf die Vernunft zurückzugreifen. Die Vernunft wird von Ayn Rand definiert als „die Fähigkeit, die das Material identifiziert und integriert, welches von den Sinnen bereitgestellt wird.“ Die Basis der Kognition, auf der die begriffliche Ebene basiert, ist die Sinneswahrnehmung. Die Sinne des Menschen sind sein einziger direkter Kontakt mit der Realität, und deshalb sind sie seine einzige Informationsquelle. Ohne sie gäbe es keine Begriffe; ohne Begriffe gäbe es keine Sprache, und ohne Sprache gäbe es kein Wissen und keine Wissenschaft.
Die Validität der Sinne ist ein Axiom, abgeleitet von der Tatsache des Bewusstseins. Axiomatisch sind sie deshalb, weil sie eine Vorbedingung für jede Art von Beweis sind und deshalb selbst nicht mehr bewiesen werden können. Alle Behauptungen, dass die Sinne die Realität „verzerren“ würden (und uns somit „betrügen“ würden), seien, so Ayn Rand, letztendlich selbstwiderlegend. Die Sinne „betrügen“ uns nicht, weil sie die Welt überhaupt nicht interpretieren. Die Interpretation dessen, was uns die Sinne liefern, obliegt dem menschlichen Geist, der Vernunft, die sich der Begriffe bedient.
Der Objektivismus geht davon aus, dass die Begriffe von den Fakten der Realität abgeleitet sind und sich auf sie beziehen. Begriffe, und somit Sprache, sind vorrangig ein Mittel der Kognition, und nicht der Kommunikation, wie häufig angenommen wird. Bei der Bildung eines Begriffes ist Ähnlichkeit der Schlüssel: „Ein Begriff ist eine mentale Integration von zwei oder mehr Einheiten, die die gleichen unterscheidbaren Charakteristika aufweisen, unter Weglassung ihrer spezifischen Ausmaße.“ Begriffe sind objektiv, da sie die Realität repräsentieren, die durch ein willensgesteuertes menschliches Bewusstsein verarbeitet wurde. Durch ein Wort wird ein Begriff in eine mentale Entität transformiert. Mittels von Definitionen bewahrt ein Mensch die Begriffe in seinem Verstand. Eine Definition ist eine Aussage, die die Natur der Einheiten identifiziert, die unter einen Begriff subsumiert werden. Alle Definitionen sind kontextuell, und eine primitive Definition widerspricht nicht einer fortgeschrittenen. „Definitionen sind der Wächter der Rationalität“, stellt Ayn Rand fest, da sie die erste Verteidigungslinie gegen das Chaos der mentalen Desintegration bilden. Die erste Definition des Begriffes „Mensch“ durch ein Kleinkind könnte sein: „Ein Ding, das sich bewegt und das Lärm macht.“ Diese erste, grobe Definition ist valid, da sie den Menschen von anderen Entitäten, wie Tische und Stühle, trennt, die das Kind auch kennt. Wenn das Kind später Katze und Hunde kennenlernt, muss es seine Definition revidieren, da sie nicht länger Menschen von Entitäten trennt, die das Kind jetzt kennt. Eine universell valide Definition des Menschen ist möglich, wenn der weiteste Kontext des menschlichen Wissens zur Anwendung gebracht wird. In diesem Fall: das rationale Wesen. Definitionen sind somit bestimmt durch die Fakten der Realität – im Rahmen des Kontextes des verfügbaren Wissens. Beide Aspekte dieser Aussagen sind von Bedeutung: Realität und der Kontext des Wissens; Existenz und Bewusstsein.
Die Methode, die sich die Vernunft in diesem Prozess bedient, heißt Logik. Logik ist die Kunst der widerspruchsfreien Identifikation. Alles Denken ist ein Prozess der Identifikation und Integration. Die Logik muss angewendet bei jedem Schritt in der begrifflichen Entwicklung eines Menschen, von der Bildung seiner ersten Begriffe bis zur Entdeckung der komplexesten wissenschaftlichen Gesetze und Theorien. Das Ergebnis der Anwendung der Vernunft ist Wahrheit, d. h. die Anerkennung der Realität. Alle Wahrheit ist ein Produkt der logischen Identifikation der Fakten der Erfahrung. Dort wo irgendein mentaler Inhalt der Realität nicht entspricht, sondern im Widerspruch zu ihr steht, ist er falsch.
Jenseits dessen, was sich als wahr oder falsch bezeichnen lässt, gibt es allerdings noch eine Kategorie von Behauptungen, die Ayn Rand als arbiträr bezeichnet, und die ein Mensch unbedingt vermeiden sollte. Bei einer arbiträren Idee handelt es sich um eine reine Behauptung, ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, sie zu bestätigen oder sie mit der Realität zu verbinden. Eine rationale Reaktion auf derartige Behauptungen besteht daraus, sie zu verwerfen, ohne sie einer weiteren Überprüfung zu unterziehen, denn in Abwesenheit jeder Evidenz gibt es keine Möglichkeit, irgendeine Idee oder irgendein Thema zu überdenken. Eine arbiträre Äußerung gleicht den Lauten eines Papageis oder der Form, die der Wind einem Sandhaufen gibt. Aus philosophischer Sicht ist das Arbiträre schlimmer als das Falsche, denn das Falsche hat immerhin noch eine Beziehung zur Realität, wenn auch eine negative. Eine philosophische Richtung wie der Agnostizismus, der das Arbiträre mit einem kognitiven Respekt behandelt, führt zu einem epistemologischen Egalitarismus, und damit zu einer Verhöhnung derjenigen Positionen, die durch Evidenz und Logik sind. Wenn ein Mensch Wissen erreichen möchte, muss er das Arbiträre vermeiden, d. h. er muss bestimmten epistemologischen Regeln folgen – Regeln, die dazu geschaffen wurden, den mentalen Prozess eines Menschen anzuleiten und seine Schlussfolgerungen in Übereinstimmung mit der Realität zu bringen.
Vernunft und Gefühle schließen sich nicht gegenseitig aus, sie stehen nicht in einem feindlichen Verhältnis zueinander, aber man muss mit größter Klarheit und Präzision unterscheiden zwischen seinen Gedanken und seinen Emotionen. Gefühle sind keine Quelle der Erkenntnis und dürfen keine Handlungsanleitung sein. Gefühle sind ebenso wichtig wie die Vernunft, aber sie dienen unterschiedlichen Zwecken, über die wir uns im Klaren sein müssen, wenn wir ein glückliches Leben führen wollen. Wenn Menschen Gefühle zeigen, zeigen sie Reaktionen auf Ereignisse, auf Menschen und Meinungen, die ihre tiefsten innersten Werte reflektieren. Sie machen eine Abschätzung darüber, ob etwas ihren Werten förderlich ist oder sie bedroht. Nur die Vernunft kann uns sagen, was richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Dazu müssen wir die Fakten betrachten und uns der Logik bedienen. Die intellektuelle Komponente der Emotionen grenzt diese von reinen Empfindungen -Hitze, Druck, Schmerz- ab, die unabhängig von dem Bewusstsein durch physikalische Reize auftreten.
Von gesunden Emotionen und einer gesunden Psyche lässt sich dann sprechen, wenn unsere Emotionen sich im Einklang mit der Realität befinden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wenn sich unsere Emotionen im Konflikt mit der Realität befinden, sehen wir uns der Aufgabe ausgesetzt, an uns zu arbeiten, um diesen Zustand zu verändern. Wir müssen aber verstehen, dass unsere Gefühle nur Konsequenzen unserer Ideen sind, und unsere Ideen nur eine Konsequenz unseres Denkens ist. Dieses Denken kann rational oder irrational sein. Wenn jemand ein Gefühl hat, dass im Konflikt steht mit einem bewussten, rationalen Urteil, bedeutet dies, dass er unterbewusste Ideen hat, die im Gegensatz stehen zu seinen bewussten Ideen. Wir müssen zu diesen unbewussten Ideen vorstoßen und versuchen diese durch einen rationalen Denkprozess zu korrigieren, um unsere Emotionen wieder in Einklang mit der Realität zu bringen. Craig Biddle nennt hier das Beispiel eines Kindes, was von rassistischen Eltern mit irrationalen Ideen gefüttert wurde. Dieser Mensch wird ungesunde, schädliche Emotionen erleiden, wenn er nicht beginnt, für sich selbst zu denken, nach Beweisen zu suchen, und schließlich die falschen Ideen durch richtige ersetzt. Wenn es zu einem scheinbaren Konflikt kommt zwischen Emotion und Vernunft, d. h. zwischen bewussten und unterbewussten Ideen, kann die bewusste Idee korrekt sein und die unterbewussten Ideen falsch. Es kann allerdings auch umgekehrt so sein, dass wir ein Gefühl haben, dass sich aus einer richtigen unterbewussten Idee ergibt.
Ziel von Ayn Rands Epistemologie war es, den menschlichen Geist zu verteidigen, dadurch, dass sie seine Wirksamkeit und seine Macht demonstrierte. Damit begab sie sich in einen Gegensatz zu den dominierenden epistemologischen Theorien in der Geschichte der Philosophie, die vor allem im 20. Jahrhundert von Skeptizismus durchdrungen war, der behauptete, dass der Mensch unfähig sei, objektives Wissen über eine unabhängige Realität zu erlangen. Metaphysik und Epistemologie sind eng miteinander verwoben. Zusammen bilden sie das Fundament einer Philosophie. In der Geschichte der Philosophie haben sich die Zurückweisung der Realität und die Zurückweisung der Vernunft ergänzt.
In der Geschichte hat es nur drei kurze Perioden gegeben, die kulturell von einer Philosophie der Vernunft dominiert wurden: das antike Griechenland, die Renaissance und das 19. Jahrhundert. Diese drei Perioden waren die Quelle des größten Fortschritts der Menschheit auf allen Feldern der intellektuellen Entwicklung – und die Perioden mit der größten politischen Freiheit. In allen anderen Perioden ist die Vernunft nur ein gering geschätzter Diener –der Handlanger- des Mystizismus gewesen. Mystizismus ist die Akzeptanz von Behauptungen, für die es keine Evidenz oder Beweise gibt oder die sogar solchen Beweisen widersprechen, und die stattdessen irgendeiner anderen Realität entspringen sollen und die Menschen wahrnehmen können mittels irgendeiner Form von unnatürlichen oder übernatürlichen Mitteln. Wo der Mystiker behauptet, dass Wissen ohne Anstrengung zugänglich ist, behauptet der Skeptiker, dass Wissen unmöglich ist. Mit großem Nachdruck verweist Ayn Rand darauf, dass Mystizismus immer zu einer Herrschaft der Brutalität führen muss. Dies ergebe sich aus der Natur des Mystizismus, da abseits der Vernunft keine Überzeugung, keine Kommunikation und kein Verstehen, möglich sind.